Donnerstag, 10. September 2009

In der Nacht bessert sich mein Zustand von Stunde zu Stunde. Am Morgen bin ich wieder topfit und ich freue mich voller Tatendrang auf die heutige Etappe. Bestimmt wird es heute weniger anstrengend...

Das Petit déjeuner (Frühstück) ist schon wieder katastrophal mickrig, aber das ist in Frankreich ja immer so; ich kann die Franzosen nicht verstehen. Es gibt wie immer nur das obligatorische Baguette, Butter und hausgemachte Marmelade. Dafür aber immerhin schlappe neun verschiedene Sorten! Leider schmeckt Bienen offenbar Marmelade auch sehr gut, sobald ich die übergestülpte große Schale aufdecke, wimmelt es in Kürze vor ihnen.

Die fabelhafte Welt der Ardèche

 

Abmarsch ist um 9.15 Uhr. Ich muß den Weg zurück, den ich gestern Abend gekommen wäre. Und komme so auch am Wegkreuz vorbei, wo ich gestern nachmittag falsch abgebogen bin. Hier bekomme ich bestätigt, daß die Situation in der Wegbeschreibung eindeutig falsch beschrieben war.

Schon bald stellt sich heraus, daß auch die heutige Etappe lang und schwer ist. Eigentlich noch härter als gestern. Daran ändern auch meine Schuhe nichts. Gestern hatte ich noch normale Turnschuhe an, heute meine guten und hohen Wanderschuhe von Loma.

Es sind zwar nie so viele Kilometer, aber der Weg ist oft sehr steinig und kostet deshalb mehr Kraft als normal, man muß bei jedem Schritt aufpassen, damit der Fuß nicht umknickt. Und bei den vielen Funklöchern wäre es meistens unmöglich, mit dem Handy Hilfe herbeizurufen.

Bergauf und bergab, oft sehr steil, geht der Weg. Lästig sind die vielen Fliegen und noch lästiger sind die vielen Düsenjäger mit ihrem Krach, den man noch minutenlang hören muß. (Gegen die Fliegen hilft das mitgebrachte Spray, gegen Düsenjets habe ich leider nichts dabei.) Und viele sehr laute Mopeds und Roller in der Umgebung stören immer wieder die Ruhe und Entspannung beim Wandern. Aber Spaß macht das Wandern trotzdem.

Unterwegs entwickle ich eine neue „Relativitätstheorie“:

1 Menschenstärke entspricht relativ genau 9 Hundestärken.

Erneut mal wieder am Ende meiner Kräfte, setze ich mich am Rathaus in Laboule auf eine der seltenen Bänke und sehe ein paar Leuten beim Boulespielen zu. Danach schaffe ich es kaum, mich wieder aufzuraffen und weiterzulaufen. Die Pause war einfach zu kurz.

Mein mitgenommenes Wasser ist längst zu Ende und ich bin nach dem beschwerlichen Weg total ausgetrocknet. Unser beider Zungen kleben am Gaumen, der Durst ist fürchterlich. Endlich kommen wir an einem Bächlein vorbei und ich fülle mühsam eine Flasche. Ah, trés bien, sehr gut, wir laben uns beide an dem klarem, kühlem, frischem Wasser. Doch ich muß mich durch reichliches Dornengestrüpp quälen. (Meine Fußgelenke legen noch ein paar Tage beredt Zeugnis davon ab.) „Hoffentlich ist das Wasser OK“ wünsche ich mir beim Trinken.

Aber die Gefahr droht nicht allein von unten, nein, auch von oben, denn wir laufen oft durch Wald, und hier besteht der Wald hauptsächlich aus Châtaigniers (Kastanienbäumen). Deren Früchte sind gerade reif und fallen ständig und überall. Attention! „Rette sich wer kann“ denke ich oft, wenn die stachligen Genossen bei einem Windstoß mal wieder um mich herum nur so runterhageln. Die jetzige Jahreszeit ist nicht ganz ungefährlich, eigentlich müßte man einen Helm zu tragen... 

Immer wieder bestaune ich Mauern, endlose Mauern, lose, ohne Mörtel aufgesetzte Mauern, oft im Wald und in völliger Wildnis. Überall sind diese Mauern. Wer hat sie nur gesetzt? Und Warum? Wieviel Arbeit und Schinderei war erforderlich, um all diese Mauern zu bauen!

Bald verliere ich die Lust an der eigentlich wunderschönen Aussicht. Denn die Erschöpfung wächst von Stunde zu Stunde. So oft es möglich ist, nehme ich lieber die in der Nähe verlaufende Straße, das ist aber auch nicht wirklich besser, denn jeder Schritt schmerzt auf dem harten Straßenbelag. Der Wunsch Fotos zu machen, verblaßt proportional mit den immer größer werdenden Schmerzen.

Proportionalität – Wikipedia   

Ab und zu kommen wir an einem Haus oder an winzigen Dörfchen vorbei. Hier habe ich immer Angst vor fremden Hunden, aber diese sind zum Glück immer brav, wollen uns nur mit einem freundlichen Bonjour  begrüßen und tun Hanni nichts Böses. Die Häuser sind alle abweisend, aus den überall herumliegenden Steinen ohne jeglichen Putz erbaut. Falls es mal selten Menschen zu sehen gibt, sind sie (im Gegensatz zu ihren Hunden) unfreundlich und verschlossen. Blumen gibt es nur ganz selten einmal.

Wie arm müssen die Menschen hier in der Einsamkeit früher gewesen sein. Doch jetzt wird hier überall gebaut, umgebaut, renoviert und modernisiert. Viele Belgier und, natürlich, Holländer haben hier Häuser gekauft.

Die letzten zwei Kilometer wollen einfach kein Ende nehmen. Mit dem letzten Quentchen Kraft komme ich endlich, endlich, um 18.45 Uhr am heutigen Ziel, einem relativ großen Hotel an und erhalte Zimmer 226 = meine Telefonnummer zu Hause. Natürlich geht das Zimmer wieder nach hinten raus, alle „guten“ vorderen Zimmer mit Aussicht sind belegt. (Warum bekomme ich als Alleinreisender eigentlich meistens ein schlechtes Zimmer?) Das Haus ist alt und abgewohnt, aber immerhin gibt es einen Aufzug im Haus und ein Bidet im Bad.

Die fabelhafte Welt der Ardèche

 

Erst einmal Schlafen, einfach nur Schlafen. Hanni liegt auch gleich flach. Aber wir haben nur eine Stunde, dann müssen wir zum Abendessen. Der Ober könnte mit seinem krummen Rücken ein Bruder von Quasimodo sein. Aber er gibt sich Mühe. Doch Mühe allein genügt nicht.

In der Mitte des Raumes steht eine alte Grünpflanze und ich sehe direkt darauf. Deshalb erinnert mich der Ober bei seinem Gang um die Pflanze herum und bei seinen meistens vergeblichen Versuchen, der armen Pflanze auszuweichen, ständig an den Butler in „Dinner for One“, der ja (fast) jedesmal über den Tigerkopf stolpert. Genauso oft streift der Ober die arme Pflanze.

Die Einrichtung im Restaurant ist altmodisch und verblichen, mit dem Charme vergangener Jahre, genauso kommen mir die meisten Gäste vor. Alle Tische sind verschieden, alle Stühle gleich. Eigentlich gerade noch liebenswert. Aber: Wer hier lacht, wird rausgeschmissen! Oder muß zum Lachen in den Keller…

Als ersten Gang gibt es Grünzeug mit Tomatenmark. Klingt seltsam, schmeckt aber gut. Nach reichlich langer Pause kündigt ein Fischmesser ebensolchen an, der sich dann auch als ganz OK herausstellt.

Danach bekomme ich ein wohlgefülltes Käse-Brett hingestellt und ich kann mich nach Belieben bedienen. Fantastique, herrlich, meine Welt ist wieder in Ordnung! Wenn ich auch aus lauter Erschöpfung heute höchstens nur 30 Fotos gemacht habe.

Vor dem Nachtisch, der aus Eis besteht, wird die Tischdecke eines jeden Gasts erst einmal umständlich mit einem kleinen manuellen „Taschenstaubsauger“ abgekehrt. Wo gibt es das heute noch?

Das Menü ist OK, besonders bei dem Preis von unter 15 Euro.

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