Tag
16 Mittwoch,
27. April 2011 Muezzins
müssen pünktlich zum ersten Licht ihren Lautsprecherterror herausbrüllen.
Deadline ist, „wenn man einen schwarzen von einem weißen Faden
unterscheiden kann“. Ich werde also um fünf Uhr morgens aus vielen
Richtungen unsanft geweckt. Der
telefonische Weckruf kommt um 7:30 Uhr, Wetter ist trüb und kalt. Frühstück
oben im 20. Stockwerk mit atemberaubender Aussicht auf Stadt,
Bosporus und Goldenes Horn und die asiatische Seite. (Istanbul soll mehr
Einwohner als die Schweiz und Österreich zusammen haben.) Ich
beobachte jede Menge Schiffe und Boote, ein großer Tanker naht, Fähren
fahren emsig hin und her. Man sieht aber auch viele fast zusammenbrechende
Häuser, Ruinen, altersschwache Häuser neben neu gebauten. Ein sehr großes
graues Betonskelett wurde brach liegen gelassen und wird gerade
erfolgreich von der Natur zurückerobert. Leider
habe ich schon wieder meinen Zimmerschlüssel im Zimmer stecken lassen und
muß mir einen neuen besorgen. Mannomann, ich werde langsam alt. Schon das
zweite Mal auf dieser Reise. Der
Bus fährt um 9 Uhr ab. Vorsichtshalber nehme ich keinen Schirm mit; den
dicken Pullover habe ich an. Zuhause in Deutschland ist es sonnig und über
20° warm. Aber dort war es die Reise über ja oft wärmer als bei
uns. Meine Wunde am Schienbein ist deutlich abgeheilt, das Pflaster ist längst
ab, Glück gehabt, keine Infektion, erledigt und abgehakt. Istanbul
heißt erst seit 1930 so. Vorher soll die Stadt 130 andere Namen gehabt
haben. Im
dichten Verkehrsgewühl geht es zum nicht weit entfernten Dolmabahce
Palast am Ufer des Bosporus‘. Hier war früher die Residenz des Sultans.
(Der Beruf eines „Sultans“ entspricht entfernt dem unseres Papstes,
sagt uns Sibel.) Dolmabahce
Palast - Google-Suche mit vielen Fotos Hier
hängt der größte Kronleuchter der Welt, ein Geschenk Königin
Victorias. Außerdem jede Menge „normale“ Kronleuchter aus Böhmen;
dazu viele mannshohe und noch höhere kristallene Standleuchter aus
Frankreich. Sogar ein Treppengeländer mit gläsernen Säulen. Natürlich
drängen sich hier erneut unzählige Menschen, alle müssen Plastiküberzieher
(sehen aus wie rosa Duschhauben) über ihre Schuhe stülpen. Nirgendwo
darf man verweilen, jeder muß unbedingt in seiner Gruppe bleiben. Und das
Schlimmste: Keine Fotos! Schon wieder Todesstrafe! Überall hängen
Videokameras und stehen argwöhnische und scharf wie Wachhunde aufpassende
Wächter herum. Deshalb hier ein Tipp von mir: Nächstes Mal eine der überall
für wenig Geld erhältlichen „Geheimkameras“ im Feuerzeug, Autoschlüssel,
Cap oder Kugelschreiber mitnehmen und dann alles heimlich fotografieren.
Fotografieren bis der Doktor kommt… Viele
verstaubte Bilder hängen an den Wänden, eigentlich alle nach einer
Restaurierung schreiend, auch ein paar Riesenschinken, bestimmt alles
Geschenke anderer Potentaten, dazu Deckenmalereien, üppige staubige
Polster, ob des Prunks alles sehr eindrucksvoll, aber ich hätte besser
draußen gewartet und eine schöne Zigarre auf der Mauer sitzend geraucht
und die Aussicht auf den Bosporus bewundert. Zumal wir leider nichts vom
berühmten Harem zu sehen bekommen. Sibel
erzählt uns, daß Atatürk vormittags um fünf nach neun gestorben ist.
Aha, deshalb sieht man so viele angehaltene Uhren in der Türkei, für
immer diese Uhrzeit anzeigend. Heute
haben einige große Kreuzfahrtschiffe angelegt. Das ist möglicherweise
mit einer der Gründe, daß so viele Leute hier unterwegs sind. Einen
wie aus Holz geschnitzten und auf einem kleinen Podest stehenden
Wachsoldaten gibt es natürlich auch. Wir haben ihn schon vorhin bestaunt.
Zum Husten oder Räuspern mußte extra ein dafür bereitstehender Kollege
vor ihn treten und seine Hand schützend vor den Mund des anderen halten;
man konnte so vom Husten nichts erkennen. Schlimm, mir tun diese Menschen
einfach leid. Jetzt
um elf ist Wachablösung und der Mann wird umständlich ausgetauscht.
Schade, daß man so mühselig sein Geld verdienen muß. Wofür soll solch
eine Quälerei heutzutage noch gut sein?? Die
Warteschlange vor dem Palast hat sich inzwischen dramatisch verlängert. Im
Bus geht es jetzt über die Atatürk-Brücke quälend langsam zum Topkapi
Palast. Auf der Brücke steht eine ganze Armada von Anglern und angelt. Nach
dem heutigen Höhepunkt folgt hier sofort daran anschließend der absolute
Tiefpunkt des Tages, nein, der Reise! Waren es jetzt schon immer viel zu
viele Menschen, hier ist es der blanke Horror! So viele Menschen habe ich
selten auf so engem Raum gesehen. Dazu unzählige Schulklassen mit
herumschreienden Kindern. Sofort nach dem Betreten des Geländes trete ich
kommandomäßig meinen Rückzug an und eile schnurstracks durch die
Sperren zurück und hinaus ins Freie. Zu allem Übel auch hier strengstes
Fotografierverbot. Das muß ich mir nicht antun! Dazu der trübe Himmel.
Ein paar sehr dicke und sehr alte Bäume sehe ich noch auf meinem Rückweg.
Natürlich auch hier, wie überall in der Stadt unzählige nervende
fliegende Händler, Verkaufsstände, bettelnde Zigeuner,
Stadtbesichtigungsbusse, Parkwächter usw.
Die Sicherheitskontrollen erscheinen mir hier schon etwas strenger.
Aber trotzdem möchte ich hier nicht noch einmal hin. Und
so trinke ich lieber gemütlich ein paar ordentliche Lavazza - Cappuccini
und teile meine Gesellschaft mit einer meiner Zigarren. Topkapi
- Google-Suche mit vielen Fotos Übrigens,
damit ich (in Bezug auf Kinder) nicht falsch verstanden werde: Ich lasse
mich hier am Treffpunkt, auf die andern Leute unserer Gruppe wartend, von
den Kindern (auf ihre Bitten) natürlich gerne vielmals und bereitwillig
von ihnen und mit ihnen zusammen mit ihren Handys fotografieren und werde
von ihnen zigmal nach meinem Vornamen gefragt! Mit meinem Hut und der
Zigarre sehe ich wohl interessant für die Kinder aus. Sibel schmunzelt
dazu. Sibel
erzählt uns, daß man im Islam gar nicht unbedingt fünfmal am Tag beten
muß, und auch der Schleier ist kein Zwang, und insgesamt ist der Islam ja
soo friedlich… Hier
steht die einzige GoldWing dieser Reise, eine schwarze 1800er. Motorräder,
Mopeds und Roller, oft auch mit Elektromotor, wuseln gerne durch den
dichten Verkehr, aber immer noch kein einziges Fahrrad. Ist vielleicht
auch zu hügelig hier. Oder zwischen so vielen verrückten Autofahrern
viel zu gefährlich. Ich bin etwas neidisch, jeder Zentimeter wird frech
ausgenutzt, rechts und links am anderen vorbeigequetscht, alles sehr
routiniert. Ich habe kein Auto mit Beulen oder Kratzern gesehen; alle
Spiegel erschienen mir ganz. Wer hier fährt, der kann fahren! Hier gibt
es keine Lexusse, auch keine Corvette, alles nur normale Mittelklassewagen
oder ein paar große Mercedesse. Ja,
es fällt mir gerade ein, ich weiß es aus irgendeinem Reisebericht im
Fernsehen, Fahrräder gibt es drüben auf den Prinzeninseln; autofreie
Zone. Im
Bus zurück zum Hotel sind wir nur noch sieben Leute. Alle anderen bummeln
auf eigene Rechnung durch die Stadt. Die Sonne läßt sich ab und zu
sehen. Apropos „sehen“: Von Ingrid und Jürgen ist heute nichts zu
sehen. Ich
bummle dann durch die Fußgängerzone und esse bei „Nordsee“. Ja,
unsere Nordsee. Alles exakt wie in Deutschland, auch die gewohnten Überschriften
über den Gerichten, Alaska-Seelachs und alles andere, wenn auch mit türkischen
Untertiteln. Also mir ist das jetzt mal ganz willkommen, endlich mal etwas
anderes als immer dasselbe alle Tage dieser Reise. Man spricht deutsch und
ich kann mit Euro bezahlen. Ich
bin ja der inoffizielle Kartoffelsalat-König; hier bekomme ich ganz
brauchbaren. Ich liebe Kartoffelsalat so sehr, daß ich unbedingt einmal
in Kartoffelsalat liegend beerdigt werden möchte. Und ich habe keinen
Bierbauch, nein, ich habe ein Kartoffelsalatbäuchlein… Die
Fußgängerzone sieht genauso aus wie bei uns zu Hause und wie in jeder
westlichen Großstadt. Alle bekannten Namen sind vertreten. Dazu unsere
deutschen Elektronik-Fachmärkte in der Stadt; auch Bauhaus und Praktiker
u.v.a. bekannte deutsche Namen gibt es hier. Ich
begegne zufällig Udo und Barbara, die sich mit Grausen von mir abwenden,
als ich ihnen erzähle, daß ich bei Nordsee gegessen habe. Hier
in der Fußgängerzone wimmelt es natürlich auch vor unzähligen
Menschen, alle fünfzig Meter ein Kastanienverkäufer, viele Los-,
Sesamkringel- und Maiskolbenverkäufer, dazwischen stromern jede Menge
elektrisch angetriebene weiße Polizei-BMW-Minis durch das Gedränge ‑ und
die uralte Straßenbahn teilt die Menschenmasse wie ein Schiff in zwei Hälften.
Am anderen Ende fährt die berühmte „Tünel“, die Tunnelbahn, eine
1875 in Betrieb genommene Standseilbahn den Hügel hoch und runter. Tünel
Istanbul - Google-Suche mit vielen Fotos Leider
war ich zu faul, um türkisches Geld einzutauschen, und deshalb stehe ich
jetzt hier dumm rum und kann nicht mit der Bahn fahren. Na OK, da laufe
ich das kleine Stück halt zu Fuß den Berg hinunter und dann weiter drüben
wieder hoch, durch enge und engste schmale Gäßchen mit vielen
zerfallenden Häusern, bis ich wieder in der Fußgängerzone bin. Die
ganze Gegend nennt man Pera und die Fußgängerzone „Perastraße“. Bald
darauf erreiche ich mein Hotel und ruhe mich etwas aus. Nebenbei: Die
Altstadt soll Weltkulturerbe sein. Um
19 Uhr geht es dann gemeinsam wieder in unsere Busse vor dem Hotel und wir
fahren zu den Anlegestegen am Wasser hinunter. Ingrid und Jürgen sind
jetzt auch wieder dabei. Ein paar Leute sind immer noch oder neu krank und
entschuldigt im Hotel geblieben. Unser Personenschiff macht angeblich
heute Abend seine Jungfernfahrt. Es gibt ein gemeinsames Abendessen auf
dem Bosporus. Wir bekommen das gewohnte Essen, dazu für jeden zwei Gläser
Wein oder Bier, nein, drei Gläser, weil die Kaffeemaschine noch nicht
funktioniert. Unter den Tellern kleben noch viele Preisetiketten. Wir
schippern gemächlich in Richtung Schwarzes Meer, unter zwei Hängebrücken
durch, die sich beide durchaus mit der Golden Gate Bridge vergleichen
lassen können und an einigen schönen alten Palästen vorbei. Leider
regnet es heftig und es ist natürlich saukalt. Und längst stockdunkel.
Das Fleisch, das ich mal wieder größtenteils verweigere, wird am Heck im
Freien gegrillt. Ab
und zu begegnen uns große Schiffe und unser Boot fährt dann immer
respektvoll weit zur Seite und wartet, bis sie und ihre Heckwellen endlich
an uns vorüber sind. Das
Wetter ist so häßlich, daß (fast) keine vernünftigen Fotos gemacht
werden können. Die
Reiseleiter erhalten alle ein großzügiges Trinkgeld, morgen im
Abreisedurcheinander paßt das nicht mehr so gut. Und dann geht es mit den
Bussen zurück ins Hotel, wo ich endlich in der Bar unten im Freien auf
einer beheizten Terrasse meinen gewohnten Drink nehme, zusammen mit einer
genußbringenden langen runden braunen Freundin… Viele
Geschäfte haben jetzt um 23 Uhr immer noch auf. Draußen auf dem
Taksim-Platz ist noch reichlich viel los, trotz des Regens. Nur die
Blumenverkäufer vor dem Hotel sind weg und haben ihre Stände zugehängt.
Meine Reise ist gut gegangen, nichts Schlimmes passiert – und vor allem
bin ich nicht krank geworden. Ich bin glücklich und zufrieden. |